Flavia Mädche: Kann Lernen wirklich Freude machen? Der Dialog in der Erziehungskonzeption von Paulo Freire - AG SPAK Verlag

Flavia Mädche: Kann Lernen wirklich Freude machen?

 Flavia Mädche:

Kann Lernen wirklich Freude machen?

Der Dialog in der Erziehungskonzeption von Paulo Freire

Dieses Buch liefert im ersten Teil einen Überblick über die historische und aktuelle Situation Brasiliens, zeichnet dann die wichtigsten Stationen von Leben und Werk Paulo Freires nach und beschreibt schließlich Theorie und Praxis eines umfangreichen Schulprojekts in Brasilien.

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Vorwort
In meiner mehrjährigen Praxis als Erzieherin und Lehrerin in Brasilien habe ich immer wieder gespürt, wie sehr das Lernen zum Menschsein dazugehört:

Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen müssen sich die Welt und ihr eigenes Dasein lernend Stück für Stück erarbeiten und erschließen. 

Dies kann auf sehr verschiedene Art und Weise geschehen. In der Schule gingen die Meinungen oft weit auseinander, wenn die Frage im Raum stand, welches Lernen dem Menschen - hier vor allem den Kindern - eigentlich gerecht zu werden vermag. 

Mir ließ diese Frage keine Ruhe, nicht zuletzt weil ich mit meiner eigenen Erziehungspraxis häufig auf große Widerstände stieß. 

Deshalb begab ich mich auf die Suche nach Literatur über den Menschen als Lernenden, die mir Hilfe sein könnte für mein praktisches Bemühen, Lernen in der Schule umzusetzen. So fand ich zu Paulo Freire und seiner Erziehungskonzeption, die mich tief beeindruckt und überzeugt hat.

Für Paulo Freire steht jede menschliche Handlung, auch wenn sie noch so privat erscheint, im Kontext einer sozialen und natürlichen Umwelt: 

Der Mensch ist, ob er will oder nicht, in jedem Augenblick seines Lebens ein zoon polittcon (Platon). Es gibt dabei zwei Möglichkeiten, in welche Richtung sein Handeln wirksam werden kann: Entweder es schafft Unterdrückung oder Befreiung!

Diese allgemeinen Aussagen zum Handeln des Menschen überträgt Paulo Freire auch auf jede erzieherische Tätigkeit: Erziehung ist immer politisch, d.h. gesellschafts- und weltbezogen. Zielt sie darauf, dem Menschen Gehorsam beizubringen, zementiert sie damit seine Unselbständigkeit. Befähigt sie ihn zu kritischem Denken und Hinterfragen, setzt sie ihn frei zur Selbst- und Weltbefreiung.

Schließlich wird auch noch das Lernen selbst 

für Paulo Freire zu einer 'öffentlichen Angelegenheit': Lernen kann nur der, der vom Mitmenschen oder der Welt etwas entdeckt und aufnimmt. Entscheidend ist, wie er dabei seiner Umwelt gegenübertritt: Ein Bestreben, alles Wahrgenommene in ein definitives System einzuordnen, läßt Mensch und Natur nicht zur Entfaltung kommen. Die Bereitschaft, sich im Lernen betreffen und verändern zu lassen, entläßt auch die Welt in den Prozeß einer befreienden Entwicklung.

Als Konsequenz aus den oben beschriebenen Einsichten 

streicht Paulo Freire aus dem Bezugsfeld des menschlichen Handelns den Begriff Neutralität und setzt dafür einen neuen ein: Intersubjektivität. Sie verwirklicht sich, wo Menschen Unterdrückung beenden und Befreiung schaffen.

Dieser Begriff der Intersubjektivität ist es, um den die ganze vorliegende Arbeit kreist, ohne ihn an einer Stelle ausdrücklich zu definieren. Er beinhaltet nach Freire das Ziel allen Handelns und allen Lehrens und ist deshalb selbst nur prozesshaft zu erschließen. 

Dazu muss man bereit sein, die Welt und den Menschen einmal mit den Augen Freires zu betrachten, ohne gleichzeitig diese Sichtweise übernehmen zu müssen. Das wird in dieser Arbeit versucht, und zwar unter dem speziellen Blickwinkel der Umsetzung seines pädagogischen Konzeptes für die (Grund-) Schule. 

Die Ausführungen können nicht unter dem Anspruch stehen, diese Pädagogik und das dahinterstehende Weltverständnis vollständig zu erfassen, weil ein solcher Anspruch ein geschlossenes Systemdenken voraussetzt, das nicht mit den Überzeugungen Freires - genauso wenig wie mit den meinigen - in Einklang zu bringen ist. 

Vielmehr soll exemplarisch dargestellt werden, was Paulo Freire in Theorie und Praxis erkannt und verarbeitet hat. Die Auswahl ist ohne Zweifel auch von meinen eigenen subjektiven Erfahrungen und Gefühlen beeinflusst, nicht zuletzt deshalb, weil ich in vielen Einsichten Freires mein Lebensempfinden widergespiegelt sah.

Paulo Freire betrachtet die Welt, insbesondere die Realitäten in seinem Heimatland Brasilien, aus der Sicht der Unterdrückten. Eine Erklärung dafür liefert der Blick in die Geschichte Brasiliens (bzw. Lateinamerikas): 

Sie erzählt vom Elend unzähliger Menschen, die über Jahrhunderte hinweg bewusst und systematisch von anderen Menschen in Unfreiheit und Abhängigkeit gehalten wurden und werden. 

Und sie zeugt davon, wie sehr auch ein entsprechendes Erziehungs- und Bildungskonzept mit daran beteiligt war und ist. Von dieser schier unbeschreiblichen Not und Ungerechtigkeit handelt das erste Kapitel dieser Arbeit. Wer sich ihr öffnet, beginnt Freire in seinem Kampf für die Zu-kurz-Gekommenen zu verstehen.

Dass es in dieser Welt auch eine andere Realität, ein befreites und befreiendes Leben geben kann, davon möchte das vierte und letzte Kapitel dieser Arbeit berichten. Es ist eine Welt, an der Freire maßgeblich mitgearbeitet und gebaut hat.

In der Mitte der Arbeit (Kapitel 2 und 3) steht Freire selbst, sein Leben, sein Wirken und sein Denken, die geprägt sind vom pausenlosen Einsatz zur Veränderung der Welt: Heraus aus der Realität der Unterdrückung hinein in eine Welt der Freiheit und ein Leben in kreativer Intersubjektivität.

Paulo Freire hat sich keineswegs gegen jegliche Systematisierung ausgesprochen, spricht ihr im Gegenteil immer wieder eine hohe Bedeutung für alles Lernen zu. Leider hat er seine eigenen Ideen in seinen Büchern nicht sehr systematisch entfaltet, was für diese Arbeit durchaus als erschwerend empfunden wurde. 

Viele seiner Schriften beinhalten nichts anderes als Dialoge, die er mit wechselnden Partnern geführt hat.

Schwerpunktmäßig beziehe ich mich in meiner Arbeit auf die ins Deutsche übersetzte Literatur Freires und die neuesten Werke, die im Portugiesischen erschienen sind. Zur deutschsprachigen Literatur über Freire ist zu sagen, daß seine Rezeption seit Anfang der siebziger Jahre nur sehr schleppend in Gang kam und sich eigentlich - abgesehen von einigen städtischen Projekten, die seine Ideen auf die Arbeit mit Ausländern anwendeten - weitgehend auf kirchliche Kreise beschränkte, die seine Gedanken für theologische Neuansätze fruchtbar zu machen suchten. 

Bei Vertretern allgemeiner schulischer Erziehungs- und Bildungskonzepte findet man seine pädagogischen Ansätze nach wie vor kaum diskutiert, man hält sie für nicht auf deutsche bzw. europäische Verhältnisse übertragbar. Außerdem steht sein Name meist für die Alphabetisierungsarbeit mit Erwachsenen und damit für eine hier nicht mehr aktuelle Problematik. 

Nach Joachim Dabisch erfahren Freires Überlegungen im deutschsprachigen Raum eine Einschränkung, die völlig ungerechtfertigt ist, hat sich doch gezeigt, dass "überall dort, wo Möglichkeiten zur Anwendung der Gedanken Paulo Freires bestehen, sich neue Qualitäten der Wissensaneignung entwickeln." (Dabisch, 1987, S. 9) 

Etwas anders stellt sich die Situation in Nordamerika dar: Nicht zuletzt wohl aufgrund der sich verschärfenden sozialen Spannungen in den USA gibt es mittlerweile einige Universitätsprofessoren, die in erziehungs-wissenschaftlicher Hinsicht auf Freire zurückgreifen, so z.B. Ira Shor (für die Anwendung seiner Pädagogik im Hochschulbereich), Henry Giroux (im Bereich der Pädagogik als revolutionäre Erziehungspraxis) oder Peter McLaren (Freire in der Postmoderne).

Meines Erachtens wird Freire nicht nur in Europa zu wenig in der Erziehungswissenschaft berücksichtigt. Bedenkt man, dass ein Drittel der Weltbevölkerung Analphabeten sind und Paulo Freire eine Methode entwickelt hat, die Menschen innerhalb eines minimalen Zeit- und Finanzaufwands zum Lesen- und Schreiben-können verhilft, kann man eigentlich nur mit handfesten machtpolitischen Interessen erklären, dass seine Methode nicht großräumig zum Einsatz kommt. 

Zu den von mir benutzten Hilfsmitteln sei noch angemerkt: Alle Interviews, die in diesem Buch erwähnt werden, wurden von mir selbst durchgeführt.

Statt eines ausführlichen Schlusswortes findet sich am Ende dieses Buches ein Zitat von Freire, das in seiner Unabgeschlossenheit und Offenheit für die Zukunft treffend zum Ausdruck bringt, wie diese Arbeit entstanden ist und welches Ergebnis sich mit ihr verbindet. 

Lernen ist ein Prozeß, der erst mit dem Ende des Lebens zu einem Abschluss gelangt.

Die Autorin Flavia Mädche:

Dr. phil., geb. 1949 in Lajeado, Brasilien. Studium in Brasilien und Deutschland. Lehrerin und Diplom-Pädagogin. 

Langjährige Tätigkeit in Brasilien in verschiedenen Praxisfeldern: Lehrerin in der Erwachsenenbildung (Alphabetisierung) - Gründerin und Leiterin eines Kindergartens - Religionslehrerin - Schulrätin für einen Landkreis - Pädagogische Supervisorin bei einem großangelegten, nach Grundsätzen Paulo Freires konzipierten Schulprojekt in West-Parana, dessen Theorie und Praxis u.a. in diesem Buch beschrieben wird,

Inhaltsverzeichnis: 

agspak-buecher.de/epages/15458842.sf/de_AT/?ObjectPath=/Shops/15458842/Products/%22M%20128%22 

In Vorbereitung des 100. Geburtstages von Paulo Freire am 19.9.2021 gibt es schon eine Sammlung zu kritische Praxis und Kritische Theorie, wie sie uns von der Pädagogik der Unterdrückten und einer Pädagogik der Hoffnung bis zum Theater der Unterdrückten und der Ästhetik der Unterdrückten von Augusto Boal.  

 


 

 

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